Egon Schiele war wohl eine der schillerndsten Figuren des Wiens der Jahrhundertwende. Seine schonungslos offene Erforschung von Erotik und Leidenschaft brachte ihn unweigerlich in Auseinandersetzung mit den herrschenden gesellschaftlichen Normen. Schiele – ab 1906 in Wien ansässig – stand zunächst fest im Einfluss des Jugendstils, dessen betonte, schönlinige Konturen und dekorativen Bildhintergründe er sich abschaute. Mit anderen jungen Künstlern wurde er von Kritikern in eine Reihe von Klimt-Nachahmern gestellt[1]. Doch Schieles intensive Beschäftigung mit dem Körper und Sexualität führt ihn bald über den gefälligen Jugendstil hinaus. Ihm ging es nicht länger um eine Variante des Graziösen, sondern um Provokation und Darstellung von sexueller Trance[2]. Bald galt er als ein Maler des Hässlichen und Obszönen[3].
Schieles Unangepasstheit sorgte für Konflikte nicht nur mit seiner bürgerlichen Umgebung, sondern auch mit den staatlichen Autoritäten. In den kleinen Orten Krumau und Neulengbach, in denen Schiele jeweils einige Monate lebte, wurde zum Boykott gegen den Künstler aufgerufen. Dass in Schieles Ateliers Modelle ein- und ausgingen, und dass er dort unverheiratet mit einer Frau zusammenlebte, das war ein Affront. 1912 wird Schiele als Folge seines Lebenswandels sogar verhaftet. Die erwähnte Frau, die bei ihm war, war seine Geliebte und Lieblingsmodell[4] Walburga Neuzil, genannt Wally. Auf sie werde ich in diesem Beitrag ausführlich zu sprechen kommen. Ausführlichere Veröffentlichungen zu Schiele kommen ohne einen Verweis auf Wally Neuzil nicht aus. Jedoch beschäftigen sich, obwohl sie vier Jahre lang und somit länger als Edith Schiele seine Partnerin war, nur zwei Publikationen vornehmlich mit Wallys Leben und der Rolle, die sie für Egon Schiele spielte: „Verwehte Spuren. Das Schicksal der Wally Neuzil“ (2010) von Robert Holzbauer und Klaus Pokorny und „Wally Neuzil. Ihr Leben mit Egon Schiele“ (2016) von Diethar Leopold, Stephan Pumberger und Birgit Summerauer. Wally Neuzil ist also erst recht kürzlich interessant für die Forschung geworden.
Viele Modelle von großen Künstlern sind heute vergessen, vor allem wenn sie, überspitzt ausgedrückt, bloß als anatomisches Lehrmittel herhielten. Manche Modelle hingegen begleiteten Künstler eine Zeit lang als Muse und Lebensgefährtin. Wally Neuzil war seit etwa Mitte 1911 Egon Schieles Partnerin. In dieser frühen Schaffensphase, in der Schieles relevanteste Werke entstanden, war sie nicht von seiner Seite wegzudenken. Mit erst 17 Jahren lernte sie das Enfant terrible der Wiener Kunstwelt kennen. Im Verhältnis von Künstler und Modell lag einige soziale Sprengkraft. Künstlermodelle – für viele Wiener eine Art Prostituierte – führten eine verheimlichte und anrüchige Schattenexistenz. In den Ateliers von Klimt und seinen Kollegen gingen die Modelle ein und aus. Diese jungen Frauen entstammten fast durchweg der Unterschicht, und versuchten etwas Geld dazu zu verdienen, indem sie sich für Künstler auszogen. In vielen Fällen war dies ein Verhältnis von finanzieller Abhängigkeit und sexueller Ausbeutung. Auch Wally Neuzil war eine dieser jungen Frauen. Aus finanzieller Not heraus zog die Familie – wie so viele zu dieser Zeit – vom Land nach Wien, und auch die noch jugendliche Wally musste Geld nach Hause bringen. War nun die Beziehung Egon/Wally eine typische Künstler/Modell-Beziehung, und wie veränderte sich ihre Rolle in Schieles Werk?
Trotz der strengen gesellschaftlichen Sexualmoral war es üblich, dass sich Männer aus der Mittel- und Oberschicht mit jungen Frauen aus der Wiener Vorstadt trafen[5]. Diesen Frauentypus nannte der Wiener Schriftsteller Arthur Schnitzler das „süße Mädel“. Mit dem „süßen Mädel“ vergnügte sich ein junger, unverheirateter Mann, bevor er schließlich standesgemäß heiratete. Zugleich suchten bei den „süßen Mädeln“ auch bereits verheiratete Herren „Erholung“ von der Ehe, aber auch Dichter und Künstler fanden in ihnen Musen und Modelle. Solche Beziehungen wurden zumeist durch den Mann beendet, sobald sie nicht mehr zweckmäßig erschienen.
Wally Neuzil scheint nun auf den ersten Blick dem Bild eines „süßen Mädel“ zu entsprechen. Die Familie Neuzil lebte zunächst in Moosbrunn, einer kleinen Stadt im Umland von Wien. Durch den frühen Tod des Vaters, eines Lehrers, war die fragile finanzielle Sicherheit der kinderreichen Familie plötzlich zerstört. Viele junge Frauen gingen in Wien schlecht bezahlter Arbeit nach, und in diesen Berufen war die Gefahr hoch, sexuell ausgebeutet zu werden. Um sich ihr Gehalt aufzubessern, ließen sich die sogenannten „süßen Mädel“ von einem oder mehreren Herren „aushalten“. Für die bürgerliche Moral waren sie schlicht Prostituierte[6].
Eine weitere Möglichkeit Geld zu verdienen – in bürgerlichen Augen auch nur eine andere Form der Prostitution – war das Modellstehen für Künstler. Klimt, Schiele und Kokoschka suchten für ihre Erforschung der Erotik Frauen, die sich nicht zieren würden, nackt und auch in eindeutigen Posen Modell zu stehen. Die Künstler, die sich mit dem populären Bild der Femme Fatale auseinandersetzten, erforschten zwar die Darstellung dieser neu entdeckten und selbstbewussten Sexualität, standen privat aber oft anders zu ihnren Modellen. Der Schriftsteller Egon Friedell fand folgende Worte für die Beziehung von Künstler und Modell im Wien der Jahrhundertwende – die Modelle seien „nichts weiter als zufällige Anregungsmittel, die er geschickt benützt, um durch sie seinen geistigen Stoffwechsel zu steigern […] Sie sind für ihn dasselbe wie Alkohol, Nikotin, schwarzer Kaffee. Er braucht sie für den Moment, aber er verbraucht sie auch vollständig und restlos.“[7] Für viele Künstler stellten die Modelle keine gesellschaftlich gleichrangigen Partnerinnen dar und so war Modellstehen für die meisten Frauen eine prekäre und ungerechte Situation[8].
Auch Egon Schiele sprach auf den Straßen Mädchen und junge Frauen an, ob sie ihm Modell stehen wollen. Mit nur 17 Jahren lernte Wally Neuzil den Künstler kennen. Dass sie überhaupt die anrüchige Arbeit als Künstlermodell in Erwägung zog zeigt, wie schwierig ihre finanzielle Lage gewesen sein muss. Für ein „süßes Mädel“ aber war Schiele – meist knapp bei Kasse und unfähig, mit Geld verantwortungsvoll umzugehen – doch eher ein schlechtes Zielobjekt. Aus Briefen Schieles an Arthur Roessler geht hervor, dass er zwei bis vier Kronen täglich für die Bezahlung seiner Modelle veranschlagte. Um das in Relation zu setzen: für sich selbst verplante Schiele fünf Kronen in der Woche, die monatlichen Miet- und Materialkosten betrugen 40 Kronen[9].
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Abb. 1: Egon Schiele – Sitzendes Mädchen,
der Oberkörper nackt, hellblauer Rock,
1911, Aquarell und Bleistift auf Papier, 48 x
31.5 cm, Gementee-museum Den Haag.
(Scan aus: Diethard Leopold, Stephan
Pumberger, Birgit Summerauer (Hgg.):
Wally Neuzil – Ihr Leben mit Egon Schiele,
Ausst.-Kat., Wien, Leopold Museum, S. 60). |
Im Frühjahr 1911 also lernten sich Egon Schiele und Wally Neuzil kennen, und sie wurde in diesen wichtigen frühen Schaffensjahren seine Gefährtin und sein Lieblingsmodell. In ihr hatte er die geeignete Frau für seine künstlerischen Vorhaben gefunden. Sie war tabulos und ohne Hemmungen im Selbstausdruck. Im Jahr 1911 ist es noch schwierig, Wally in Werken Schieles zu erkennen. Schiele steht noch in seinem Frühwerk, und auch die Beziehung hat gerade erst begonnen. Anhand der rotblonden Haare mag man Modelle in dieser Zeit als Wally identifizieren können. Das Aquarell „Sitzendes Mädchen, der Oberkörper nackt, hellblauer Rock“ (Abb. 1) mag die früheste Darstellung Wally Neuzils von Schiele sein, noch tritt sie eher als gesichtsloses Modell auf.[11]
Im August 1911 zog Schiele in die Stadt Neulengbach und mietete dort wiederum ein Atelier. Wally Neuzil blieb in dieser Zeit bei ihrer Mutter in Wien wohnen, besuchte aber Schiele oft in der Stadt, die mit der Eisenbahn gut zu erreichen war. Schiele und Wally waren zuvor aus der Stadt Krumau gedrängt worden und auch hier sollte sich Schieles Künstlerleben als nicht vereinbar mit der kleinstädtischen Moral erweisen. Er landete schließlich im Gefängnis. Was sich genau ereignete, lässt sich nicht mehr ganz rekonstruieren. Schiele und Wally sollen über Nacht ein Mädchen beherbergt haben, das von Zuhause weggelaufen war. Am nächsten Tag wurde Schiele von der Polizei verhaftet und wegen „Entführung“, „Schändigung“ und „Verletzung der Sittlichkeit“ angeklagt[10]. Wally Neuzil hielt öffentlich zu Schiele und besuchte ihn im Gefängnis, sie brachte ihm Obst und Malutensilien mit. Schließlich wurde Schiele schuldig gesprochen, Pornographie verbreitet zu haben, und verbrachte 27 Tage in der Zelle. Schiele beschrieb zwei Jahre später das Empfangskomitee an Freunden, welche bis auf Wally eher verhalten dastanden: „Von meinen Nächstbekannten rührte sich niemand außer Wally, die ich damals kurz kannte und die sich so edel benahm, dass mich dies fesselte.“[12]
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Abb. 2: Egon Schiele – Sitzende Frau
im grauen Kleid, 1912, Bleistift, Aqua-
rell und Deckfarben auf Papier, Privat-
besitz. (Scan aus: Diethard Leopold,
Stephan Pumberger, Birgit Summerauer
(Hgg.): Wally Neuzil – Ihr Leben mit
Egon Schiele, Ausst.-Kat., Wien, Leopold
Museum, S. 80).
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Abb. 3: Egon Schiele – Kniende Wally im grauen Kleid, 1912, Bleistift, Aquarell und Deckfarben auf Papier, 46 x 31.2 cm, Leo- pold Museum, Wien. © gemeinfrei.
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Abb. 4: Egon Schiele – Wally, 1912, Aquarell
und Bleistift auf Papier, Landessammlung
Niederösterreich. (Scan aus: Diethard Leopold,
Stephan Pumberger, Birgit Summerauer
(Hgg.): Wally Neuzil – Ihr Leben mit Egon
Schiele, Ausst.-Kat., Wien, Leopold Museum,
S. 2).
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Das ganze Jahr 1912 über tritt der Typus Wally in Schieles Zeichnungen, Aquarellen und Gouachen auf. Von Tpyus ist hier die Rede, weil Schiele auf Portraitähnlichkeit oft wenig wert legt und die Gesichter seiner Figuren – nicht nur, wenn Wally Modell war – meist stilisiert bleiben. Doch tragen viele Frauenfiguren Schieles in dieser Periode ihre rotblonden Haare, oft mit einem Tuch darin, und ihre großen blauen Augen (Abb. 2, 3). Man kann also sagen, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Wally Neuzil handelt. Ganz deutlich als einzigartige, unverwechselbare Persönlichkeit ist Wally in einer Gouache von 1912 dargestellt (Abb. 4). Das Porträt zeigt sie mit eindringlichem, leicht melancholischen Blick. Im selben Jahr malte Schiele auch ein Ölgemälde von Wally (Abb. 5) Es ist das wohl bekannteste Porträt von ihr, Teil eines Doppelbildnisses mit dem Künstler (Abb. 6).
Die großen, expressiven Augen, die vollen roten Lippen, der wie zum Zuhören leicht geneigte Kopf strahlen Gutmütigkeit und Nahbarkeit aus. Schiele war fasziniert von Wallys langer Nase, ihren markanten, geraden Augenbrauen und den wilden Haaren und akzentuiert diese noch einmal[13]. Es ist ein sehr intimes, aber nicht erotisches Bild. Wenn man Wally betrachtet, so wirkt die Distanz fast aufgehoben. Schiele hingegen zeigt sich als selbstbewusst abweisenden Künstler. Arrogant hebt er die Augenbrauen und schaut auf den Betrachter herunter. Hier sind zwei unterschiedliche Charaktere dargestellt, doch der Bogen, der das Paar außerhalb des Bildraumes verbindet, bezeugt die enger werdende Bindung dieser beiden Personen. Obschon das Doppelporträt große Zuneigung füreinander vermuten lässt, schrieb Wally im Januar 1913 in ein Skizzenbuch Schieles, dass sie „in niemanden auf der Welt verleibt“ sei[14]. Warum tat sie das? War es nur eine gedankenlose Spielerei? Wollte sie Schiele provozieren? Wollte sie so ein Bekenntnis zu ihr aus ihm heraus bekommen?
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Abb. 5: Abb. 4: Egon Schiele – Bildnis Wally Neuzil, 1912, Öl
auf Holz, 32.7 x 39.8 cm, Leopold Museum, Wien.(Scan aus:
Diethard Leopold, Stephan Pumberger, Birgit Summerauer
(Hgg.): Wally Neuzil – Ihr Leben mit Egon Schiele, Ausst.-
Kat., Wien, Leopold Museum, S. 114).
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Abb. 6: Egon Schiele – Selbstbildnis mit Lampionfrüchten, 1912,
Öl auf Holz, 32.7 x 39.8 cm, Leopold Museum, Wien. (Scan aus:
Diethard Leopold, Stephan Pumberger, Birgit Summerauer
(Hgg.): Wally Neuzil – Ihr Leben mit Egon Schiele, Ausst.-Kat.,
Wien, Leopold Museum, S. 115).
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Doch ging Schiele eigentlich recht offen mit seiner Beziehung zu Wally um, was für ein Künstler und sein Modell in Wien nicht selbstverständlich war. In seinem Freundeskreis traten sie als Paar auf. Auch vor seiner Familie verheimlichte Schiele die Beziehung nicht, doch wurde das Verhältnis von Künstler und Modell gemischt aufgenommen. Sein Schwager Anton Peschka nennt in seinem Notizbuch Wally eine „Dirne“, mit der Schiele sich umgebe, weil sie seine „erotische Begierde“ und seine Eitelkeit befriedige und seine Launen zu händeln wisse[15]. Wally begleitete den Künstler auch auf einige Reisen und unterschrieb auch auf Postkarten, die Schiele etwa an seinen Förderer Heinrich Benesch schickte, mit dem Wally auch später Kontakt halten sollte. Als Arthur Roessler ihn zum Urlaub am Traunsee einlud, nahm Schiele wie selbstverständlich Wally mit, obwohl diese nicht eingeladen war. Roessler zeigte zunächst ein wenig Unmut darüber, dass Schiele sein Modell mitgebracht hatte, die Begrüßung sei dann aber dennoch herzlich gewesen[16]. Im Laufe des Jahres 1914 scheint die Beziehung so selbstverständlich geworden zu sein, dass Wally stets auch die Postkarten Schieles an dessen Freunde unterschrieb, und diese ihr ebenfalls Grüße ausrichten. Keineswegs war diese Beziehung also bloß eine Affäre zwischen Künstler und Modell.
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Abb. 7: Egon Schiele – Frau in Unter-
wäsche und Strümpfen, Aquarell und
Bleistift auf Papier, 1913, Privatbesitz.
(Scan aus: Diethard Leopold, Stephan
Pumberger, Birgit Summerauer
(Hgg.): Wally Neuzil – Ihr Leben mit
Egon Schiele, Ausst.-Kat., Wien, Leo-
pold Museum, S. 103).
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Abb. 8: Egon Schiele – Wally in roter Bluse mit erhobenen Knien, Aquarell und Bleistift auf
Papier, 1913, Privatbesitz.(Scan aus: Diethard Leopold, Stephan Pumberger, Birgit
Summerauer (Hgg.): Wally Neuzil – Ihr Leben mit Egon Schiele, Ausst.-Kat., Wien,
Leopold Museum, S. 120).
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In Schieles Zeichnungen aus der ersten Hälfte des Jahres 1913 ist Wally Neuzil noch deutlich zu erkennen. Es weisen sie nicht nur Attribute wie Haarfarbe und Haarband aus, ihre Gesichtszüge sind – auch, wenn man an das Ölportrait denkt – deutlich zu identifizieren (Abb. 7, 8). Im Laufe des Jahres 1913 und dann verstärkt 1914 nimmt Schieles Interesse an der individuellen Persönlichkeit seiner Figuren ab. Mit den sich verflüchtigenden Jugendstileinflüssen verliert auch Wally ihr Gesicht. Schiele verändert unter dem Eindruck des Expressionismus und Picassos seinen Stil und verleiht seinen Figuren maskenhafte Züge[17]. Folglich ist auch Wally in wenigen Werken von 1913/14 wirklich zu erkennen. Ihr Gesicht wird schlanker und spitzer, ihre Lippen schmaler[18]. Erhalten bleiben Hinweise wie die Haarfarbe und das mit einem Tuch hochgebundene Haar, das den Betrachter die Figur als Wally erkennen lassen mag (Abb. 9, 10).
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Abb. 9: Egon Schiele – Kauernder Mädchenakt, 1914, Schwarze Kreide und Aquarell auf
Papier, Leopold Museum, Wien. (Scan aus: Diethard Leopold, Stephan Pumberger,
Birgit Summerauer (Hgg.): Wally Neuzil – Ihr Leben mit Egon Schiele, Ausst.-Kat.,
Wien, Leopold Museum, S. 104). |
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Abb. 10: Egon Schiele, Sitzender Halb-
akt mit blauem Haarband, 1914,
Schwarze Kreide und Aquarell auf
Papier, 47.4 x 31.3 cm, Leopold Mu-
seum, Wien. (Scan aus: Diethard Leo-
pold, Stephan Pumberger, Birgit Sum-
merauer (Hgg.): Wally Neuzil – Ihr
Leben mit Egon Schiele,Ausst.-Kat.,
Wien, Leopold Museum, S. 104).
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Zum Frühjahr 1915 hin schien Schiele den Entschluss gefasst zu haben, zu heiraten. In einem Brief an Arthur Roessler sagt er, er wolle „günstigst“ heiraten und „nicht Wally vielleicht“[19]. Der Künstler scheint also an die Möglichkeit einer Eheschließung mit Wally Neuzil gedacht zu haben, entschied sich dann aber dagegen. Er beginnt stattdessen, Edith Harms zu umwerben. Was könnte Schiele dazu bewogen haben? Sicher hat der soziale Status der Braut eine Rolle gespielt, wie sich an der Wortwahl „günstigst“ zeigt. Schiele beabsichtigte also, eine Frau aus guten Kreisen, die ihm gesellschaftlich ebenbürtig ist, zu ehelichen. Schließlich hatte Wally als Künstlermodell kaum einen besseren Ruf als eine Prostituierte. Das mag in Schieles Freundeskreis keine Rolle gespielt haben, jedoch stand Schieles schlechter Ruf auch seinem kommerziellen Erfolg im Weg. In dieser Weise beugte sich der Rebell also letztlich doch den gesellschaftlichen Regeln und so spielte auch Geld eine Rolle. Neben rein rationalen Erwägungen hatte Schiele sich aber auch schlicht verliebt und aus seinen Briefen an Edith geht hervor, dass er tiefe Gefühle für sie hegte[20].
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Abb. 11: Egon Schiele – Tod und Mädchen, 1915, Öl auf Lein-
wand, 150 x 180 cm, Österreichische Galerie Belvedere,
Wien. (Scan aus: Diethard Leopold, Stephan Pumberger,
Birgit Summerauer (Hgg.): Wally Neuzil – Ihr Leben mit
Egon Schiele, Ausst.-Kat., Wien, Leopold Museum, S. 99).
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Trotzdem fiel es Schiele sehr schwer, Wally loszulassen. Er verarbeitete das Ende der Beziehung mit Wally Neuzil in dem monumentalen Gemälde „Tod und Mädchen“ (Abb. 11). In den dargestellten Figuren lässt sich das Paar erkennen. Die Stimmung entspricht Schieles veränderter persönlicher Situation. Er tritt hier als Tod in Mönchskutte auf, welcher der ehemaligen Geliebten den Tod bringt. Die Todesmetapher verleiht der Trennung eine Endgültigkeit. Schiele bedient sich des Renaissance-Motivs von Tod und Mädchen und deutet es autobiographisch um, so wie er hier nicht nur als Verführer, sondern auch als Todbringer auftritt. Trotzdem schwing Zärtlichkeit und auch Erotik in der Darstellung mit. Schiele gefällt sich nicht in der Rolle des Todes, er ist ein Tod, der seinen Auftrag nur widerwillig erfüllt. Das Bild behandelt ein erzwungenes Auseinandergehen, ohne aber wirklich schon voneinander lassen zu können. Es ist ein Denkmal einer unglücklichen Trennung.
Wally Neuzil war zunächst schwer getroffen von der Trennung. Trotzdem begann sie – sie war gerade erst 21 Jahre alt – ihr Leben neu zu ordnen. Auch während sie mit Schiele liiert war, hatte sie als Verkäuferin gearbeitet. Überhaupt war sie nie finanziell abhängig von ihm gewesen. Sie war für Schiele eine Art Sekretärin und unterstütze ihn bei seinen Künstlergeschäften. Sie kümmerte sich um seine Mietangelegenheiten, hielt Kontakt zu Galeristen und zu Schieles Sammlern und Förderern, erledigte Botengänge zu Kunden, kaufte für Schiele Malutensilien und behielt seine Ausgaben im Auge[21]. Beinahe scheint es so, als sei eher Schiele von Wally abhängig gewesen, dass sie ihm, dem „ewigen Kind“[22], den Alltag regelte und er so seiner Kunst nachgehen konnte. Manche Schiele-Biographen vertreten die Meinung, dass viele Freunde Schieles die als ungerecht empfundene Trennung von Wally nicht besonders gut aufnahmen[23]. Da einige auch nach der Trennung mit ihr Kontakt hielten, galt sie wohl kaum als „Dirne“ oder bloßes Modell. Nach der für sie schwierigen Trennung resignierte Wally nicht, sondern ließ sich ab 1915 zur Krankenpflegerin ausbilden, gliederte sich also ebenfalls in die Gesellschaft ein. Sie hätte sich wie ein „süßes Mädel“ einen Gönner suchen können, doch schlug eine Ausbildung zum noch neuen Beruf der Krankenpflegerin ein. Es erscheint tragisch, dass Wally Neuzil während des Diensts als Krankenschwester an Scharlach erkrankte und im Dezember 1917, etwa ein Jahr vor Egon Schiele, verstarb.
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Abb. 12: Egon Schiele – Die Umarmung (Liebespaar II), 1917, Öl auf
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Schieles künstlerische Produktion in den Jahren 1911 bis 1914, seine ausdrucksstärkste und bedeutendste Phase[24], fällt mit der Beziehung zu Wally Neuzil zusammen und lässt sich schwer ohne diese Person betrachten. Ab 1914/15 wendet er sich einem konventionelleren, wieder eher im Jugendstil verhafteten Stil zu – was vor allem die Körperformen betrifft. Er kehrt zur „schönen Linie“ zurück (Beispiel Abb. 12). Die unnatürlich verrenkten Figuren, deren Konturierung zuvor immer härter und kantiger wurde und die krassen sexuellen Themen verschwinden[25]. Der Rebell scheint vergleichsweise bieder geworden zu sein, und oft wird dieser Stilwandel als ein Sieg des gesellschaftlichen Zwangs über den Künstler gesehen.
Wie Schieles Künstlerkarriere verlaufen wäre, hätte er Wally nicht kennen gelernt, kann nur Spekulation sein. Durch seinen frühen Tod aber war Schiele länger mit Wally zusammen gewesen als mit seiner Frau Edith. Wally erleichterte und regelte, wie schon erwähnt, nicht nur seinen Alltag und stand fest zu ihm auch durch Krisen, sie half ihm auch bei der Erschließung von zwangloser Sexualität. Die Beziehung zu ihr war für Egon Schiele womöglich Teil einer Phase des Erwachsenwerdens, an deren Ende die Trennung von seiner jahrelangen Gefährtin stand. Wally war also eine Art persönlicher und kreativer Katalysator. Keineswegs als Modell eine Art „Wegwerfprodukt“ für Schiele, wie es Egon Friedell in dem eingangs gebrachten Zitat sagte. Wally war nach der Beziehung mit Egon nicht körperlich oder geistig verbraucht, sondern setzte sich – nach einer Phase der Trauer – neue Ziele. Auch wenn sie letztlich nicht heirateten, so trat Wally Neuzil in vielen Dingen wie Schieles angetraute Gattin auf und sie führten eine Beziehung auf Augenhöhe. Sie war nicht nur seine Muse, sondern seine erste Lebensgefährtin und die wichtigste Frauenfigur in und hinter seinem Werk.
Tyll Frnschläder
[1] Robert Waissenberger (Hrsg.): Wien 1870 – 1930. Traum und Wirklichkeit, Wien 1984, S. 152.
[2] Waissenberger: Wien 1870 – 1930, S. 153.
[3] Sabine Poeschel: Starke Männer, Schöne Frauen, die Geschichte des Aktes, Darmstadt 2014, S. 137.
[4] Heinrich Benesch: Mein Weg mit Egon Schiele, Wien 1965, vgl.: Diethard Leopold, Pumberger, Summerauer: Wally Neuzil. Ihr Leben mit Egon Schiele, S. 166.
[5] Waissenberger: Wien 1870 – 1930, S. 8.
[6] Stephan Pumberger: Wertlose Frauenzimmer – Künstlermodelle in Wien um 1900, in: Leopold Diethard, Stephan Pumberger, Birgit Summerauer (Hgg.): Wally Neuzil. Ihr Leben mit Egon Schiele, Ausst. Kat., Leopold Museum, Wien 2015, S. 40.
[7] Lisa Fischer: Geschlechtssymmetrien der Wiener Moderne, in: Tobias G. Natter, Gerbert Frodl (Hg.): Klimt und die Frauen, Ausst. Kat., Leopold Museum, Wien 2000, S. 33.
[8] Diethard Leopold: Orpheus & Ophelia. Maler & Modell. Egon & Wally. Eine Beziehung aus Sicht eines Psychotherapeuten, in: Leopold Diethard, Stephan Pumberger, Birgit Summerauer (Hgg.): Wally Neuzil. Ihr Leben mit Egon Schiele, Ausst. Kat., Leopold Museum, Wien 2015, S. 110.
[9] Pumberger: Wertlose Frauenzimmer – Künstlermodelle in Wien, S. 30.
[10] Birgit Summerauer: Wally Neuzil. Viele Grüße von der Klapperschlange. Die Gefährtin Egon Schieles, in: Leopold Diethard, Stephan Pumberger, Birgit Summerauer (Hgg.): Wally Neuzil. Ihr Leben mit Egon Schiele, Ausst. Kat., Leopold Museum, Wien 2015, S. 69.
[11] Summerauer: Wally Neuzil. Viele Grüße von der Klapperschlange, S. 76.
[12] Summerauer: Wally Neuzil. Viele Grüße von der Klapperschlange, S. 71-72.
[13] Alessandra Comini: Egon Schiele’s Portraits, Los Angeles, 1974, S. 99.
[14] Diethard Leopold: Orpheus & Ophelia. Maler & Modell, S. 111.
[15] Summerauer: Wally Neuzil. Viele Grüße von der Klapperschlange, S. 88.
[16] Summerauer: Wally Neuzil. Viele Grüße von der Klapperschlange, S. 91.
[17] Waissenberger: Wien 1870 – 1930, S. 153.
[18] Summerauer: Wally Neuzil. Viele Grüße von der Klapperschlange, S. 92.
[19] Summerauer: Wally Neuzil. Viele Grüße von der Klapperschlange, S. 49.
[20] Summerauer: Wally Neuzil. Viele Grüße von der Klapperschlange, S. 96.
[21] Summerauer: Wally Neuzil. Viele Grüße von der Klapperschlange, S. 62.
[22] Brief von Egon Schiele an Arthur Roessler: Ich ewiges Kind, 06.01.1911, WBR, HS, Inv. H.I.N. 180641; ESDA, ID:300, vgl. Leopold, Pumberger, Summerauer: Wally Neuzil. Ihr Leben mit Egon Schiele, S. 168.
[23] Christian M. Nebehay: Egon Schiele. Von der Skizze zum Bild, Wien 1989, S. 72.
[24] Diethard Leopold: Orpheus & Ophelia. Maler & Modell, S. 125.
[25] Diethard Leopold: Orpheus & Ophelia. Maler & Modell, S. 125.
Literatur:
Benesch, Heinrich: Mein Weg mit Egon Schiele, Wien 1965.
Comini, Alessandra: Egon Schiele’s Portraits, Los Angeles, 1974.
Diethard, Leopold; Pumberger, Stephan; Summerauer, Birgit (Hgg.): Wally Neuzil. Ihr Leben mit Egon Schiele, Ausst. Kat., Leopold Museum, Wien 2015.
Nebehay, Christian M.: Egon Schiele. Von der Skizze zum Bild, Wien 1989.
Poeschel, Sabine: Starke Männer, Schöne Frauen, die Geschichte des Aktes, Darmstadt 2014.
Waissenberger, Robert (Hrsg.): Wien 1870 – 1930. Traum und Wirklichkeit, Wien 1984.