Mutterliebe – geliebte Mutter. Familiendarstellungen von Mary Cassatt


Wenn wir über Liebe in der Kunst sprechen, dann kommen wir nicht an Familiendarstellungen vorbei. Die natürliche Vertrautheit innerhalb familiärer Beziehungen findet sich auch in Bildern, jedoch musste sich erst der gesellschaftliche Blick auf die Familie im Allgemeinen und auf die Kindheit im Besonderen ändern, bevor Künstler diese für uns selbstverständliche Intimität abbilden konnten.
Dieser Wandel vollzog sich am Ende des 19. Jahrhunderts, also zu einer Zeit in welcher auf vielen Gebieten enorme Umbrüche stattfanden. Die Gesellschaft änderte sich grundlegend, angetrieben durch die schnell voranschreitende Industrialisierung und neue wissenschaftliche Erkenntnisse.
Diese Zeit ermöglichte es auch mehr Frauen als zuvor sich als Künstlerinnen zu betätigen. Obwohl die Gesellschaft in Europa weit davon entfernt war eine gleichberechtigte zu sein, so gab es doch Frauen, die mit ihrer Kunst Geld verdienen konnten. Unter ihnen war die Amerikanerin Mary Cassatt.
Die Künstlerin beschäftigte sich in ihren Werken viel mit familiären Beziehungen. Sie versuchte immer auf den intimen Grund vorzudringen und blieb nicht wie andere Künstler ihrer Zeit an der sentimentalen Oberfläche stecken. Nichtsdestotrotz sah auch sie sich mit Vorurteilen konfrontiert, in dem Sinne, dass sie als Frau typisch weibliche Sujets gewählt habe.[1]
Bei einer näheren Betrachtung ihres Gesamtwerkes muss dieser zeitgenössischen Ansicht aber widersprochen werden.
Im Folgenden wird zunächst auf zwei Bilder eingegangen, die die Mutter der Künstlerin zeigen, wobei das zweite auch auf das Bildmotiv verweist, für das Cassatt bis heute bekannt ist: Kinderdarstellungen.

Abb. 1: Mary Cassatt „Frau mit Zeitung“, 1878, Öl
auf Leinwand; 100 x 81 cm, Privatbesitz. Scan aus:
Helene Barbara Weinberg: American
Impressionism und Realism: the painting of
modern life, 1885-1915, New York 1994, S. 254.
Das erste Bild, das Marys Mutter zeigt, stammt aus dem Jahr 1878 und ist betitelt mit „Frau mit Zeitung“ oder auch „Le Figaro“ (Abb. 1).
Wir sehen eine sitzende, ältere Frau in einem weißen Kleid. Sie trägt eine Sehhilfe vor den Augen und hält eine Zeitung in den Händen, auf welche ihr Blick gerichtet ist. Sie ist versunken in ihre Lektüre. Sie sitzt auf einem Sessel, welcher vor einem Spiegel steht, sodass sich eine Hand und die Zeitung spiegeln. Der Raum in dem die Szene stattfindet ist hell, aber völlig unbestimmt.
Der Figaro, den die Frau liest, lässt tief blicken. Gegründet wurde die Zeitung 1826 zunächst als Satireblatt. Erst nur in Paris erhältlich, wurde sie bald auch überregional bekannt. Seit 1866 erschien sie täglich und ist damit die älteste Tageszeitung in Frankreich. Sie gilt vielen auch heute noch als eine wichtige meinungsbildende Zeitung.
Was sagt diese Lektüre nun über die abgebildete Frau aus?
Zweifellos ist sie eine moderne Frau, die Wert darauf legt gut informiert zu sein. Dieses Bild verknüpft auf einzigartige Weise die Themen Weiblichkeit, Mütterlichkeit und Intellektualität miteinander.
Waren doch Zeitung lesende Frauen immer noch untypisch. Frauen, so das gängige Vorurteil, verschwendeten ihre Zeit mit Romanen.[2]

Griselda Pollock beschreibt das Bild in ihrem Buch „Mary Cassatt. Painter of Modern Woman“ wie folgt: „...the mother is represented, but middle-aged, educated, working with her mind, fashionable but not young or available, for the wedding ring glints on her finger. The image of the intellectual mother is created by her adult, artistically creative, daughter whose gaze is implied in the space of the studio where together the daughter painted and her mother read.“[3]
Die besondere Beziehung von Mutter und Tochter kommt hier zum Vorschein, beide sind unabhängige Frauen.
Die beiden Frauen respektieren sich in ihren Entscheidungen, anders kann man es nicht verstehen, dass die Mutter Kinder und Enkel in Amerika zurückließ um bei der unverheirateten Tochter in Paris zu leben, die sich als Künstlerin betätigte.
Es schwingt noch etwas anderes mit, das Pollock beschreibt, die weibliche „Abgeschiedenheit“ wird auf den Darstellungen von Cassatt zu einem Katalysator für weibliche Bildung und Kreativität.[4]
Im nächsten Bild „Reading“ (Abb. 2) verbinden sich wie zuvor schon erwähnt zwei wichtige Elemente, um die es bei dieser Betrachtung geht.

Abb. 2: Mary Cassatt „Reading“, 1880, Öl auf Leinwand; 55,9 x 100,3 cm, Privatbesitz New York.
© gemeinfrei.

Zum einen sehen wir wieder die Mutter der Künstlerin, diesmal jedoch nicht allein. Sie hat ihre Enkelkinder um sich geschart und liest ihnen vor.
Die Großmutter ist im Profil zu sehen, sie schaut konzentriert in das Buch, die Enkelkinder sind um sie verteilt und blicken sie aufmerksam an, versunken in das Gehörte. Dieses Thema der Wissensvermittlung ist ein wichtiges bei Cassatt. Sie hat dieses Thema auch für ein 1892 in Auftrag gegebenes Wandbild benutzt, welches bei der Weltausstellung in Chicago 1893 gezeigt wurde und später verschwand. Dieses Wandbild wurde im Frauenpavillon ausgestellt und der größte Teil zeigte junge Frauen beim Pflücken der Früchte vom Baum des Wissens. Hierbei ist entscheidend, dass diese Früchte vor allem an die Jüngeren weitergereicht wurden.[5]
Dieser Akt der Wissensvermittlung durch eine Frau an ihre Töchter und Enkelinnen, bzw. unter Frauen generell, spiegelt den hohen Stellenwert sowohl der Bildung als auch der Weiblichkeit im Elternhaus der Künstlerin wieder.
Das nächste Bild zeigt ein anderes, aber auch vielfältig vorhandenes Thema bei Mary Cassatt, denn Kinder reizen sie auf ihre Art. Sie selbst äußerte sich dahin gehend, dass Kinder natürlich und wahrhaftig seien und keine Hintergedanken hätten.[6] Äußerungen, die darauf schließen lassen, dass sie selbst mit ihrer Kinderlosigkeit unzufrieden war, gibt es jedoch nicht. Womit ein schwerwiegendes Vorurteil gegen Frauen nicht untermauert werden kann und wir uns einen vorurteilsfreien Blick für die Kinderdarstellungen von Casatt bewahren müssen. Sie malt Kinder, nicht um eine vermeintliche Lücke in ihrem Leben zu füllen, dafür sind ihre Kinder auch viel zu wenig idealisiert.[7] Sie malt Kinder in natürlichen Posen, auch wenn sie schläfrig oder eingeschnappt sind. Diese Kinder haben eine Persönlichkeit, die sich von den erwachsenen Akteuren unterscheidet, und dies ist ein wichtiges Thema der Zeit. Noch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts galten Kinder als kleine Erwachsene und wurden möglichst schnell zu produktiven Mitgliedern der Gesellschaft gemacht.[8] Die Kunst spiegelt dies in merkwürdig steif anmutenden Kinderdarstellungen wieder, wie man sie vor allem aus höher gestellten Gesellschaftsschichten kennt. Zum Ende des 18. Jahrhunderts aber vollzieht sich ein gesellschaftlicher Wandel. Die Kindheit an sich bekommt einen Stellenwert. Gesetze, die diesen Stellenwert unterstreichen, sind zur Zeit Cassatts in Frankreich an der Tagesordnung. So wird Kinderarbeit eingeschränkt und die Schulpflicht eingeführt. Ebenfalls einen Umschwung erfährt die Beziehung zwischen Müttern und ihren Kindern. War es zuvor ein Zeichen von Wohlstand, dass man seine Kinder von einer Amme stillen lassen konnte, so wird jetzt die innige Bindung zwischen Mutter und Kind zu einem Gesundheitsfaktor erklärt.[9]
Eine der ersten Mutter-und-Kind-Darstellungen entsteht 1880, als ihr älterer Bruder mit seiner Familie zu Besuch in Paris ist.

Abb. 3: Mary Cassatt „Mutter beim waschen
ihres schläfrigen Kindes“, 1880, 100,3 x
65,72 cm, Los Angeles, County Museum of
Art, (M.62.8.14). © gemeinfrei.

„Mutter beim Waschen des müden Kindes“ (Abb.3) ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Zum einen steht die soziale Interaktion im Mittelpunkt, die Darstellung ist weder anekdotisch noch ikonisch. Wir sehen eine häusliche Szene, die sich jedem erschließt, die nicht perfekt ist, sondern natürlich. Das Kind rekelt sich auf dem Schoß der Mutter, die Kleidung ist verrutscht, die Mutter ist konzentriert beim Waschen ihres Kindes, schaut den Betrachter nicht an.
Ebenfalls bemerkenswert ist die Tatsache, dass hier das Baden im Vordergrund steht. Dieses Motiv findet sich nicht nur einmal bei Cassatt. Auch dies ist ein Hinweis auf den veränderten Zeitgeist in Europa. Das Baden wurde auch in Europa zum Standard. Für Cassatt, die aus der oberen Mittelschicht Amerikas kam, war dies jedoch nichts Neue. So konnte sie den Vorgang vielleicht selbstverständlicher in ihre Bilder einfließen lassen.[10]
Nachdem 1882 Marys Schwester Lydia gestorben war, die ihr in Paris mit dem Haushalt geholfen hatte und für zahlreiche Bilder Modell gestanden hatte, wurde Marys Lage schwieriger, da sich nun alleine um ihre kränker werdende Mutter kümmern musste. Ihren künstlerischen Tiefpunkt erreichte sie 1884. In diesem Jahr malte sie nur sehr wenig, schuf aber ein sehr ungewöhnliches Doppelporträt von ihrem Bruder Alexander mit seinem Sohn Robert.[11]
Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass sie Modelle aus ihrem Familien- und Freundeskreis bevorzugte und selten auf professionelle Modelle zurückgriff - vielleicht auch ein Grund dafür, dass die Bilder eine solche Natürlichkeit ausstrahlen. Der persönliche und liebevolle Kontakt zwischen der Künstlerin und den Abgebildeten dürfte die Entstehung der Bilder begünstigt haben.[12]

Abb. 4: Mary Cassatt „Alexander Cassatt und
sein Sohn Robert“, 1884, 100,3 x 81,3 cm,
Philadelphia Museum of Art (W1959-1-1).
Nun aber zu dem Doppelporträt des Bruders mit seinem Sohn (Abb.4). Waren die Mutter-Kind-Darstellungen, wenn auch nicht konventionell ausgeführt, so doch auf jeden Fall ein alt bekanntes Bildthema. Dass jedoch Vater und Söhne so innig beieinandersitzen, ist ungewöhnlich. So fortschrittlich die Zeiten auch waren, wenn es um die Erziehung und Fürsorge von Kindern ging, so war man doch noch weit davon entfernt dem Vater eine tragende Rolle in diesen Bereichen einzuräumen. Cassatt bricht demnach mit einem weiteren Vorurteil ihrer, und vielleicht auch immer noch unserer Zeit.

Das Bild zeigt den Vater im Sessel sitzend und Zeitung lesend, der Sohn sitzt auf der Sessellehne und legt einen Arm um die Schultern des Vaters, um mit ihm gemeinsam in die Zeitung zu schauen wie es scheint. Beide Personen sind schwarz gekleidet, wobei ein Kontrast mit einem weißen Kragen und weißen Manschetten gesetzt wird, welche ebenso strahlen wie die Zeitung, während der Sessel und das übrige Zimmer in Brauntönen verschwimmen. Wir finden bei Vater und Sohn also das gleiche Motiv der Wissensvermittlung wie bei Mutter und Tochter. Bei Cassatt scheint das Geschlecht nicht unbedingt eine Rolle zu spielen.

Mary Cassatt war für ihre Zeitgenossen sicher nicht einfach zu verstehen, aber auch heute gilt es, die vielen verschiedenen Aspekte ihrer Darstellungen sorgfältig zu betrachten. Cassatt beschäftigte sich mit Frauen und sie beschäftigte sich mit familiären Bindungen. Ich meine, dass sie so der Tatsache Rechnung trägt, dass Frauen eben nicht so einseitig sind, wie manch ein Mann sie gerne hätte und auch dargestellt hat. Mary Cassatt war eine vielschichtige Frau und das gestand sie ihren Geschlechtsgenossinnen auch zu. Ihre Bilder haben aber bei allen Varianten und Vielschichtigkeiten eins gemeinsam: sie erzählen von Liebe und Respekt.

Anna Sadatsharifi


[1] 1881 schrieb der Kritiker Joris-Karl Huysmans im Rahmen der sechsten Impressionisten Ausstellung: „...only a woman is qualified to paint childhood.“ In: Pollock, Griselda: Mary Cassatt. Painter of Modern Woman. London 1998, S. 185.

[2] Pollock 1998, S. 134. Das Bild wird an dieser Stelle mit anderen Darstellungen verglichen, bei denen Mütter entweder mit Handarbeiten beschäftigt sind oder Zeitungen dazu dienen einen Kontext zu vermitteln.

[3] Ebd., S. 134.

[4] Ebd., S. 39 ff. Pollock schreibt dies zum Wandbild Modern Woman.

[5] Ebd. Die Konzeption, das Wandbild und die Reaktionen werden ausführlich beschrieben.

[6] Roe, Sue: Das private Leben der Impressionisten. Berlin 2007, S. 285.

[7] Roe 2007, S. 355.

[8] Barter, A. Judith (Hrsg.): Mary Cassatt: Modern Woman. Chicago 1998, S. 71.

[9] Barter 1998. S.70.

[10] Ebd., S.74.

[11] Roudebush, Jay: Mary Cassatt, München 1982.

[12] Roudebush 1982.


Literatur:

Barter, A. Judith (Hrsg.): Mary Cassatt:Modern Woman. Chicago 1998.

Pollock, Griselda: Mary Cassatt. Painter of Modern Woman. London 1998.

Roe, Sue: Das private Leben der Impressionisten. Berlin 2007.

Roudebush, Jay: Mary Cassatt. München 1982.

Sadoyan, Lilit: A short biography of Mary Cassatt. Massachusetts 2017.

Walther, F. Ingo (Hrsg.): Malerei des Impressionismus.1860-1920. Köln 2010.