Was ist Liebe? Sucht man auf diese Frage in unserer heutigen Gesellschaft nach einer allgemein gültigen Definition, findet man diese wohl am ehesten im Internet. Hier stößt man zuerst auf einen Wikipedia Eintrag: „Liebe ist eine Bezeichnung für eine starke Zuneigung und Wertschätzung" [1]. Im Weiteren wird diese Begriffsbestimmung präzisiert: „Bei Liebe wird nicht unterschieden, ob es sich um eine tiefe Zuneigung innerhalb eines Familienverbandes, oder um eine Geistesverwandtschaft handelt, oder aber um ein körperliches Begehren gegenüber einem anderen Menschen." [2] So oder ähnlich definiert unsere Gesellschaft im 21. Jahrhundert den Begriff der Liebe, als einen Gefühlszustand der Zuneigung.
Doch muss man sich die Frage stellen, ob Liebe immer schon in diesem Sinn gesehen wurde. Wie dachte etwa ein Mensch in Venedig um 1500, in der Epoche der Renaissance, über Amor und Amore? Dass das Thema breit diskutiert wurde, zeigt die zahlreich vorhandene vor allem theologische und philosophische Literatur dieser Zeit zu dem Themenbereich. Marsilio Ficino, Pietro Bembo, Ludovico Ariosto oder Pietro Aretino sowie Francesco Petrarca, um nur einige Namen zu nennen, befassten sich ausführlich mit diesem Thema [3]. Denn die Liebe ist ein schwer zu fassendes Phänomen und eine Begriffsbestimmung hierzu ein schwierige Aufgabe.
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Abb. 1: Tiziano Vecellio, Himmlische und irdische Liebe, 1514, Öl auf Leinwand, 279 x 118 cm, Rom Galleria Borghese. © gemeinfrei. |
Neben Philosophie, Theologie und Literatur, scheint sich in dem erwähnten Zeitraum auch die bildende Kunst mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen des Themas der 'Liebe' angenommen zu haben. Immer wieder begegnen wir in diesem Zusammenhang des frühneuzeitlichen Liebesdiskurses einem Werk des Tiziano Vecellio (Abb. 1), das heute in der Sammlung der Villa Borghese in Rom unter dem Titel „Amore sacro e profano", also „Himmlische und irdische Liebe" geführt wird. Diese Bezeichnung erhielt das Bild erst in einem Inventarverzeichnis 1693 [4]. Folgt man diesem heutigen Titel, könnte man davon ausgehen, dass in diesem Gemälde eine Art bildliche Definition eines Liebesverständnisses der Renaissance in der Form einer Allegorie dargestellt wurde. Ausgehend vom christlichen und philosophisch platonischen Verständnis unterschied man bei der Definition des Liebesbegriffs der Renaissance in zwei unterschiedliche Ausprägungen der Liebe. Für das erotische Begehren, wozu auch die Leidenschaft und der gesamte Bereich der Sexualität und Fortpflanzung gehörte, stand der griechische Begriff 'eros' [5]. Der antike Gott Eros [6] zeigt in seiner mythologischen Erscheinung oft Züge eines Dämons, der den Menschen in seinen Bann zieht, ihn unterjocht und beherrscht [7]. „Wir alle lieben unaufhörlich auf irgendeine Weise; aber fast alle lieben wir schlecht, und je mehr, desto schlechter lieben wir.“ [8] So sieht der Theologe und Philosoph Marsilio Ficino (1433 – 1499) die niederste Form irdischer Liebe.
Ficino folgt dabei der philosophischen Richtung des Neuplatonismus [9]. Aus diesem Denkansatz heraus entwickelt er in seinem Werk „Über die Liebe oder Platons Gastmahl" [10] die Liebe als ein Stufensystem [11],innerhalb dessen man entsprechend des biblischen Sündenfalls abstürzen, aber auch durch reinere Formen der Liebe über die sinnliche und dann geistliche Liebe bis hin in die reinste Form, die himmlische Liebe aufsteigen kann. Der Mensch soll über die irdische Liebe hinauswachsen und zur himmlischen Liebe, zur Liebe, die aus Gott kommt (agape oder caritas) [12], das heißt in die Vereinigung mit Gott hineinwachsen. So gesehen steckt in der Verbindung zweier Menschen immer schon als treibende Kraft das gemeinsame Göttliche dieser beiden Personen, die in ihrer Seele bereits angelegt ist [13].
Doch muss man die Frage stellen, ob Tizian hier wirklich diesen speziellen, komplizierten Liebesbegriff thematisiert und in der Gestalt der beiden Frauen dargestellt hat. Oder welche weiterführenden Erkenntnisse lassen sich aus einer genaueren Betrachtung des etwa zwischen 1514 und 1516 entstandenen Bildes gewinnen?
Im Gemälde fallen die beiden die Komposition dominierenden Frauenfiguren auf. Die eine trägt ein prächtiges weißes Kleid, mit roten Ärmeln. Diese Frau sitzt vom Betrachter aus gesehen links, von der Mitte abgerückt, am Rand eines mit Wasser gefüllten steinernes Bassins. Die andere Frau ist unbekleidet und stützt sich, halb stehend, halb sitzend, auf der rechten Seite mit ihrer rechten Hand auf der Kante dieses Bassins ab. Zwischen den beiden Frauen beugt sich von hinten ein kleiner Putto über die Beckenkante und spielt mit seiner rechten Hand mit dem darin befindlichen Wasser. Bei dieser Szene, die sich aus diesen drei Figuren zusammensetzt, handelt es sich eindeutig um das Hauptmotiv des Gemäldes.
Ein weiterer Blick auf das Bild erschließt eine um diese Szene herum angelegte lebhafte Darstellung der Umgebung, die Tizian aus zahlreichen kleinen Szenen zusammengesetzt hat. So erkennt man auf dem Wasserbassin [14] ein Relief, auf dem sich Personen in unterschiedlicher Handlung, Pferde sowie ein Baum finden. Im Hintergrund staffeln sich weitere in eine idealisierte arkadische Landschaft eingebettete Schauplätze und Szenen. Der Betrachter erkennt zwei galoppierende Reiter, sowie hinter einem Teich eine Ansammlung von Häusern, eine Schafherde mit ihrem Hirten, zwei Hunde, die ein Kaninchen jagen und ein Liebespaar.
Auf der linken Seite des Gemäldes reitet ein Mann mit einem Schimmel auf eine Burg zu, vor deren Tor eine Gruppe von Menschen steht. Direkt hinter der sitzenden Frau spielen zwei weiße Kaninchen.
All diese gestaffelten Einzelszenen lassen das Gemälde geradezu verschachtelt erscheinen. Vor allem stellt sich die Frage, was das alles mit dem Thema 'Liebe' zu tun hat. Mit diesem Problem beschäftigen sich seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts zahlreiche Kunsthistoriker*innen. Sie versuchten mit mehr oder weniger überzeugenden Argumenten dieses rätselhafte Bild zu entschlüsseln. Die Fülle der Aspekte, zum Beispiel die detaillierte Einbeziehung der Hintergrundszenen oder die ausführliche Deutung des Figurenreliefs am Brunnenbecken, wie sie von Erwin Panofsky, Rona Goffen, Eugene B. Cantelupe, Heiner Borggrefe, Beverley Louise Brown oder Jörn Steigerwald [15] diskutiert werden, würden allerdings den Rahmen dieses Beitrags sprengen, weshalb in der heutigen Ausführung der Fokus auf die bereits genannte Hauptszene der beiden Frauen am Wasserbecken gelegt wird.
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Abb. 2: (Detail aus Abb. 1)
Wappen der Familie Aurelio
im Relief des Brunnens.
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Die besondere Schwierigkeit bei der Deutung des Werkes von Tizian liegt darin, dass man keinerlei greifbare Aufzeichnungen zur Entstehung oder den Grund einer Auftragsvergabe, wie man sie durchaus bei anderen seiner Bilder findet, ermitteln kann. Erst die Entdeckung eines im Relief des Brunnenbeckens [16] dargestellten Wappenschildes (Abb. 2) lässt inzwischen die Vermutung für einen Entstehungskontext zu. Dieses Wappen kann der venezianischen Familie des Nicolò Aurelio [17] zugeordnet werden. Interessant ist dabei, dass zu der Zeit, als Tizian das Gemälde in Arbeit hatte, eine Hochzeit im Hause Aurelio gefeiert wurde [18]. Die Vermutung liegt nahe, dass der Maler den Auftrag zu diesem Bild aus Anlass der Hochzeit erhalten hat. Das führt uns mittelbar wieder zum Thema 'Liebe'.
Jedoch war eine Hochzeit zu dieser Zeit nicht unbedingt ein Ereignis bei dem primär Liebe und Zuneigung im Spiel waren. Vielmehr waren politische oder gesellschaftliche Faktoren das Hauptmotiv für eine eheliche Verbindung.
Im Fall der Hochzeit Nicolò Aurelios mit der aus Padua stammenden Laura Bagarotto trübte ein tragischer Umstand die Hochzeit der beiden. 1590 war Nicolò Aurelio als Sekretär im Consiglio dei Dieci [19] am Hochverratsprozess [20] gegen Lauras Vater, den Rechtsprofessor Bertuccio Bagarotto beteiligt. Dieser wurde zum Tod verurteilt und in Anwesenheit seiner gesamten Familie gehängt. Lauras erster Ehemann Francesco Borromeo war an demselben Konflikt beteiligt, jedoch kam es gegen ihn zu keinem Urteil, sondern er starb unter ungeklärten Umständen. Die Akten zu diesem Prozess, die man heute noch in den Archiven Venedigs [21] findet, geben sogar wieder, dass Lauras Vater später für unschuldig erklärt und rehabilitiert wurde, was erst eine neue Ehe für seine Tochter Laura Bagarotto möglich machte. Welche Gründe zur Eheschließung der vormals von der Gesellschaft verstoßenen Tochter mit einem der Prozessbeteiligten gegen ihren Vater führte, ist nicht genau bekannt. Ob es tatsächlich romantische Liebe war, ist fraglich. Man kann allerdings davon ausgehen, dass nicht ganz unerhebliche finanzielle Mittel im Spiel waren. Aus den Dokumenten über die Konfiszierung [22] des Besitzes der Familie Bagarotto lässt sich die Erkenntnis gewinnen, das die junge Witwe durchaus eine gute Partie war und Vermögen in die Ehe brachte. Weil der bizarre Fall für reichlich Gesprächsstoff in Venedig sorgte, wie der venezianische Chronist Marino Sanudo [23] berichtet, muss man das Gemälde stehts in Verbindung mit diesem geschichtlichen Hintergrund betrachten. Aber es lässt sich heute nicht mehr klären, in wie weit Tizian möglicherweise darauf Bezug genommen haben könnte. Direkte Verweise oder eindeutige Anspielungen auf die Geschichte mit Ausnahme des Wappens lassen sich nicht mehr finden. Auch wenn in Verbindung mit dem Wappen vermutet wurde, dass es sich bei der am Brunnenrand sitzenden bekleideten Frau um eine idealisierte Darstellung der Braut Laura Bargarotto in einem Hochzeitskleid handeln könnte. Die nackte Frauengestalt ihr gegenüber auf der anderen Seite des Brunnens verkörperte entsprechend dieser These die Liebesgöttin Venus, welche die Braut in ihre ehelichen Pflichten einweist. Diese Vermutung hat durchaus etwas für sich, wenn man das Gemälde in Verbindung mit der Hochzeit bringt.
Rona Goffen [24] widerspricht jedoch überzeugend dieser Deutung in dem Punkt, dass sich in den Gesichtszügen der bekleideten Frau das Porträt Laura Bagarottos verstecke. Sie weist auf die auffällige Ähnlichkeit der beiden Frauen in Tizians Gemälde hin. In ihren Augen ist es daher unwahrscheinlich, dass der Maler in der einen Laura Bagarotto dargestellt hat und in der anderen die Göttin Venus. Wenn Tizian in diesem Bild sie hätte porträtieren wollen, würde sich ihr Gesicht eindeutig von dem der Göttin Venus unterscheiden, was hier nicht der Fall ist. Andernfalls hätte er aufgrund der Ähnlichkeit der Gesichtszüge beider Frau, zweimal Laura Bagarotto porträtiert, was auch keinen Sinn ergiebt. Bei einem Porträt der Braut wäre die Gestaltung wohl ohnehin charakteristischer ausgefallen. Das zeigt er zum Beispiel in den Porträts „La Schiavona" (1510 – 12), in dem der Laura Dianti (1520) oder dem Bildnis von Leonora Gonzaga (1536 – 38), bei denen er regelrecht die Individualität der Dargestellten herausgearbeitet hat.
Zudem wäre es wohl kaum schicklich gewesen eine Dame vom Stande Laura Bagarottos nahezu nackt darzustellen. Da beide Frauen die gleichen Gesichtszüge tragen, kann nicht dieselbe Person einmal in der Rolle der Braut bekleidet und zum anderen in der Rolle der Venus nackt dargestellt worden sein.
Eine Lösung dieses Problems wäre es, wenn Tizian zweimal eine Venus gemalt hätte [25]. In seinem Œuvre lässt sich durchaus eine Art Prototyp für seine Darstellungen einer Venus ausmachen. Die Haare seiner Venusfiguren sind stehts blond und entweder in geflochtenen Zöpfen um den Kopf gebunden oder fallen wellig herab. Dies entspricht auch der allgemeinen Darstellungstradition der Venus, wie sie Sabine Poeschel im Handbuch der Ikonographie ausweist [26]. In dem Zusammenhang greift diese Abhandlung eine These auf, die Erwin Panofsky bereits 1930 in die Diskussion eingebracht hat, dass Tizian anstelle einer Venus mit einer Braut eventuell die Göttin zweimal in jeweils unterschiedlichen Rollen [27] dargestellt habe.
Beverley Louise Brown [28] hat für ihre Betrachtung des Gemäldes Vergleiche der ikonographischen Tradition der Venusdarstellung herangezogen. Dabei fiel ihr besonders ein Werk von Francesco del Cossa [29] (Abb. 3) aus der Zeit um 1469 mit dem Titel "Triumph der Venus" [30] ins Auge. Zu sehen ist eine Venus, die in ein rot-weißes Gewand gekleidet ist. Ein Blütenkranz sitzt auf ihrem Kopf. Blonde, lange Haare fallen wellig über ihre Schultern. Auffällig sind, wie in Tizians Gemälde, die weißen Kaninchen oder Hasen, die sich am Ufer eines Flusses tummeln. Hasen beziehungsweise Kaninchen sind als begleitende Attribute in Venusdarstellungen durchaus bekannt. Aufgrund ihrer Vermehrungsfreudigkeit symbolisieren sie die Fruchtbarkeit. Bei Tizian taucht dieses Motiv auch in seinem Gemälde „Verehrung der Venus" (Abb. 4) von 1518 -1520 wieder auf. Aber auch die Kleidung ist auffällig ähnlich zu der am Brunnen links sitzenden Frauenfigur. Sowohl del Cossas Venus als auch die hier gezeigte Dame sind in ein weißes Gewand mit roten Akzenten gekleidet. Im Haar der Venus wie auch dem der sitzenden Frau erkennt man zudem einen Blütenkranz. Handelt es sich folglich, wie bereits angedeutet, auch im Gemälde Tizians um zwei Venusdarstellungen?
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Abb. 3: Francesco del Cossa, Monat April, Ausschnitt: Triumph der Venus, um 1496,Fresko, Palazzo Schifanoia, Ferrara, Saal der Monate. © gemeinfrei.
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Abb. 4: Tiziano Vecellio, Verehrung der Venus (Worship of Venus), 1518/19, Öl auf Leinwand, 172 x 175 cm, Madrid Museo del Prado. © Mueso del Prado.
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Gerade die antike Göttin Venus erhielt in der frühen Neuzeit in Italien eine besondere Bedeutung für die Hochzeitszeremonie. Venus, die Göttin der Liebe, wurde den Bräuten als eine Art Schutzpatronin zugeordnet. Sie war diejenige, die sinnbildlich gesprochen, die Braut auf die Ehe und ihre ehelichen Pflichten vorbereitete, ihr die Haare für die Hochzeitszeremonie flocht und sie in das festliche Brautkleid hüllte [31]. Im Zusammenhang mit dieser Vorstellung, dass Venus gleichsam als fürsorgliche Patin der Braut fungierte, ist auch die in dieser Zeit aufkommende Tradition zu sehen, dass Bräute danach strebten sich dem Abbild der Venus anzugleichen. Besonders die Farbgebung des Hochzeitsgewandes war hierbei entscheidend.
Aus Berichten und Darstellungen von Hochzeitsszenen, wie wir auf diesem Gemälde eines Brautpaares (Abb. 5) von Lorenzo Lotto [32] sehen, wissen wir, dass Bräute vornehmlich in roten oder rot-weißen Kleider [33] vor den Altar traten. Dies waren aber ebenfalls die Farben, die klassisch in der Darstellung der Göttin Venus Verwendung fanden. Aus der Rückerstattung des Besitzes an Laura Bagarotto wissen wir, dass sich dabei auch ein weißes Brautkleid aus Satin befunden hat [34], dass als Vorlage für das Kleid der sitzenden Frau gedient haben könnte.
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Abb. 5: Lorenzo Lotto, Porträt des Messer Marsilio Cassotti
und seiner Braut Faustina Assonica, 1523, Öl auf Holz, 84 x
71 cm, Museo Nacional del Prado, Madrid. © Mueso del
Prado. |
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Abb. 6: Tiziano Vecellio, Venus von Urbino, 1538, 119 x 165
cm, Öl auf
Leinwand, Florenz, Galleria degli Uffizi. © gemeinfrei.
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Wirft man in diesem Zusammenhang einen Blick in Tizians Œuvre findet man diese Farbkombinationen in allen seinen Darstellungen der Göttin Venus (Abb. 6). Die Verbindung der genannten Venusattribute mit den klassischen Elementen der Brautausstattung der Renaissance lassen vermuten, dass in der Frau auf der linken Seite in Tizians Gemälde nicht Laura Bagarotto als Braut, sondern, stellvertretend für sie, Venus als Braut dargestellt wurde.
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Abb. 4: Tiziano Vecellio, Verehrung der Venus (Worship of
Venus), 1518/19, Öl auf Leinwand, 172 x 175 cm, Madrid
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Nun bliebe im Weiteren nur noch die unbekleidete Frauenfigur in die Analyse einzubeziehen, die ebenfalls mit Venus in Verbindung gebracht wurde – und das nicht zu Unrecht. Auch hier findet sich die Farbgebung rot-weiß wieder. Vom linken Oberarm entlang ihres gesamten unbekleideten Körpers fließt eine rote, seidig glänzende Stoffbahn herab. Dieses Tuch wirkt, als stünde es aufrecht wie eine nach oben züngelnde rote Flamme und scheint doch in Bewegung, als würde es vom Wind zur Seite geweht. In ihrer erhobenen linken Hand hält die Frau einen Gegenstand, der an eine Öllampe erinnert. In dem Gemälde „Verehrung der Venus" (Abb. 4), das in diesem Beitrag an anderer Stelle bereits erwähnt wurde, hält die dort dargestellte Venusstatue ebenfalls eine solche Lampe in ihrer Hand. Als Attribut der Venus könnte es gut mit dem flammenden Tuch korrespondieren und symbolisieren, dass Venus das Feuer der Liebe und Leidenschaft entfacht. Hier jedoch steigt von der Lampe nur ein zarter Rauchfaden auf. Heiner Borggrefe deutet dies im Sinne eines religiösen Räucherrituals zur kultischen Reinigung [35]. Diese Venus steht für einen Mittelweg. Sie fordert nicht zur Zügellosigkeit und hemmungslosen Leidenschaft auf, sondern leitet zur Mäßigung an. So trägt sie nicht die Öllampe, sondern ein Räuchergefäß als Aufforderung zur Keuschheit und Reinheit. Auch wenn die Venus nackt ist, verdeckt ein über den rechten Oberschenkel fließendes weißes Tuch ihre Scham. Es greift das Weiß des Brautkleids der gegenübersitzenden Venus auf, das ebenfalls die Reinheit symbolisiert.
An dieser Stelle lässt sich festhalten, dass in diesem Gemälde sehr wahrscheinlich zwei Veneres (geminae Veneres) [36] in ihren unterschiedlichen Rollen für die Eheschließung dargestellt sind. Die „Venus urania" (himmlische Venus) [37] symbolisiert dabei die Liebe zur Schönheit und damit letztlich zu Gott und ist nach Panofskys Auffassung in der nackten Frauengestalt zu erkennen. Während die „Venus pandemos" [38] als Repräsentantin der körperlichen und somit irdischen Liebe in der bekleideten Frauengestalt zu sehen ist, die ihrer „Schwester", der „Venus urania" untergeordnet ist. Sie stehen stellvertretend für die ehelichen Pflichten der Frau, in diesem Fall der Laura Bagarotto. Es ist ein Zusammenspiel von, auf der einen Seite maßvoller, leidenschaftlicher Liebe, um für Nachkommen zu sorgen und auf der anderen von der Pflicht Keuschheit, eheliche Treue und Züchtigkeit zu üben.
Die Göttin Venus wurde, wie es bereits Botticelli anschaulich dargestellt hat, aus dem Schaum des Wassers geboren. Da scheint es fast so als würde der kleine Putto, der sich von Hinten über den Rand des Beckens beugt, durch das Aufrühren des Wassers die beiden Seiten der Liebe miteinander verbinden [39]. Eine fruchtbare Mischung, die am Abfluss des Bassins unterhalb des Wappens einen Rosenbusch tränkt und damit die Blumen der Venus erblühen lässt. Auch wenn ihm seine Attribute, Pfeilköcher und Bogen, fehlen, könnte man ihn als Amor bezeichnen.
In Anbetracht all des Genannten komme ich zu der Überzeugung, dass Tizian in diesem Gemälde das Liebesverständnis, wie es im Allgemeinen in der Renaissance etabliert war, in Bezug auf die daraus hervorgehende Ehe in einer 'Eheallegorie' aufgegriffen hat. Doch wird ihm die sehr differenzierte Philosophie, die sich mit den Begriffen „Amore sacro e profano" – „Himmlische und irdische Liebe" verbindet, vermutlich zu dieser Zeit noch nicht in Gänze erschlossen haben [40]. Daher mag der Titel "Amore sacro e profano" zu hoch gegriffen sein. Eher kann man vielleicht sagen, dass Tizian mit dieser Eheallegorie die Braut erinnert, dass das dualistische Liebesverständnis aus einer niederen, leidenschaftlichen Form menschlicher Liebesbeziehung und einer hohen nahezu unerreichbaren Form der Liebesbeziehung zu Gott, erst in der Ehe zu seiner Gemeinsamkeit findet. Dieses Liebesverständnis, das uns heute fremd ist, prägte die frühe Neuzeit und wurde vermutlich in diesem Sinn auch von Tizians Zeitgenossen verstanden.
Rahel-Maria Koech
[1] Vgl. Liebe – Wikipedia in: https://de.wikipedia.org/wiki/Liebe. (Download 24.02.2019)
[2] Ebenda
[3] Manfred Hardt, Geschichte der italienischen Literatur, Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1996, S. 147.
[4] Jörn Steigerwald, Amors Renaissance: Modellierungen himmlischer und irdischer Liebe in der Literatur des Cinquecento (culturae, Band 10), Wiesbaden 2014, S. 333.
[5] Manfred Hardt, Geschichte der italienischen Literatur, S. 50ff.
[6] Fritz Graf, Eros, in: Der neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, Hubert Cancik, Helmuth Schneider [Hrsg.], Band 4 / Epo - Gro, Stuttgart, Weimar 1998 Sp. 89 – 91, Sp. 90.
[7] Angelika Dierichs, Erotik, in: Der neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, Hubert Cancik, Helmuth Schneider [Hrsg.], Band 4 / Epo - Gro, Stuttgart, Weimar 1998 Sp. 92 – 103, Sp. 93.
[8] Marsilio Ficino, Über die Liebe oder Platons Gastmahl, Übersetzung Karl Paul Hasse, Leibzig 1914, S. 43.
[9] M. Hardt, Geschichte der italienischen Literatur, S. 223.
[10] Maria-Christine Leitgeb, Ficino, Marsilio, in: Landfester, Manfred und Schneider, Helmuth [Hrsgg], Renaissance – Humanismus, Lexikon zur Antikenrezeption, Der neue Pauly – Supplemente Band 9, Stuttgart 2014, Sp. 371 - 378.
[11] Erwin Panofsky, Exkurs I: Zur Deutung von Tizians „Himmlischer und Irdischer Liebe", in: Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst, Hamburg 1930, S. 173 – 180, S. 179.
[12] Erwin Panofsky, Studien zur Ikonologie - humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, Köln 1980, S. 212.
[13] Ebenda S. 211.
[14] Sabine Poeschel, Handbuch der Ikonographie, Sakrale und profane Themen der bildenden Kunst, Darmstadt 52014.
[15] Erwin Panofsky, Zur Deutung von Tizians „Himmlischer und Irdischer Liebe" Vgl.: Rona Goffen, Titian's Sacred and Profane Love: Individuality and Sexuality in a Renaissance Marriage Picture, in: Studies in the History of Art, Vol. 45, Symposium Papers XXV: Titian 500 (1993), pp. 120-144; Eugene B. Cantelupe, Titian's Sacred and Profane Love Re-examined, in: The Art Bulletin, Vol. 46, No. 2 (June 1964), pp. 218-227; Heiner Borggrefe, Tizians sogenannte Himmlische und Irdische Liebe: Der Beistand der Venus im Hochzeitsbild der Laura Bagarotto, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 64. Bd., H. 3 (2001), pp. 331-363; Beverley Louise Brown, Picturing the Perfect Marriage: The Equilibrium of Sense and Sensibility in Titian's Sacred and Profane Love, in: Andrea Bayer und Sarah Cartwright [Hrssg.], Art and love in Renaissance Italy, New Haven 2008, S. 238–245 und Jörn Steigerwald, Amors Renaissance: Modellierungen himmlischer und irdischer Liebe in der Literatur des Cinquecento (culturae, Band 10), Wiesbaden 2014.
[16] Heiner Borggrefe, Tizians sogenannte Himmlische und Irdische Liebe, pp. 331-363, S. 332, Sp. 2.
[17] Daselbst.
[18] Daselbst.
[19] Peter Lüdemann, Virtus und Voluptas, Beobachtungen zur Ikonographie weiblicher Aktfiguren in der venezianischen Malerei des frühen Cinquecento, in: Klaus Bergdolt [Hrsg.] Studi – Schriftenreihe des deutschen Studienzentrums Venedig / Neue Folge Bd. 1, Berlin 2008, S. 134.
[20] Seit 1590 befand sich Venedig im Krieg mit der Liga von Cambrai. Nachdem Padua sich kurzzeitig unter habsburgischer Herrschaft befand, wurde es von den Habsburgern zurückerobert. Teile des Paduaner Adels sträubten sich nun gegen den Rückfall an Venedig. Bertuccio Bagarotto geriet unter Verdacht an einem antivenezianischen Komplott beteiligt zu sein. Vgl.: H. Borggrefe, Tizians sogenannte Himmlische und Irdische Liebe, S. 333, Sp. 1.
[21] Im "Archivio di Stato, Venice" ist der gesamte Schriftwechsel Laura Bagarottos im Zusammenhang des Prozesses gegen ihren Vater und ihren Ehemann archiviert. Vgl.: Rona Goffen, Titian's Sacred and Profane Love, S. 143, Anm. 48.
[22] Ebenda, S. 130, Sp.1.
[23] H. Borggrefe, Tizians sogenannte Himmlische und Irdische Liebe, S. 332, Sp. 2, Anm. 10: Marin Sanudo, Diarii, I496-I533, Venezia I879-I902, 58 Bde., Bd. XVIII, 17. Mai 1514.
[24] R. Goffen, Titian's Sacred and Profane Love, S. 124 – 127.
[25] Erwin Panofsky, Zur Deutung von Tizians „Himmlischer und Irdischer Liebe", S. 180.
[26] S. Poeschel, Handbuch der Ikonographie, „In der Malerei wird sie [Venus Verf.] überwiegend als blond, mit offenem Haar oder Flechtfrisur dargestellt.", S. 316, Sp. 1.
[27] E. Panofsky, Zur Deutung von Tizians „Himmlischer und Irdischer Liebe", S. 180.
[28] Beverley Louise Brown, Picturing the Perfect Marriage, S. 238 – 245.
[29] Ebenda S. 240, Sp. 2.
[30] Ebenda S. 241, Sp. 1 (Fresko, Palazzo Schifanoia, Ferrara, Saal der Monate, Monat 'April').
[31] Ebenda, S. 240 Sp. 2.
[32] Lorenzo Lotto, Porträt des Messer Marsilio Cassotti und seiner Braut Faustina Assonica, 1523, Öl auf Holz, 84 x 71 cm, Museo Nacional del Prado, Madrid.
[33] R. Goffen, Titian's Sacred and Profane Love, S. 138 Sp.2 Appendix 2: “Restoration and technical examinations of Titian's Sacred and Profane Love (nearing completion in June 1993) have revealed new information about the painting. The bride's dress was originally red; the color is partially visible to the naked eye beneath the final white."
[34] Ebenda, S. 130, Sp. 1.
[35] H. Borggrefe, Tizians sogenannte Himmlische und Irdische Liebe, S. 346, Sp. 1.
[36] E. Panofsky, Zur Deutung von Tizians „Himmlischer und Irdischer Liebe", S. 180.
[37] Erwin Panofsky, Studien zur Ikonologie - humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, Köln 1980, S. 211 – 212.
[38] Daselbst.
[39] Jörn Steigerwald, Amors Renaissance: Modellierungen himmlischer und irdischer Liebe in der Literatur des Cinquecento (culturae, Band 10), Wiesbaden 2014, S. 343.
[40] Ebenda, S. 336.
Literatur:
Bayer, Andrea und Cartwright, Sarah [Hrssg.], Art and love in Renaissance Italy, New Haven 2008.
Borggrefe, Heiner, Tizians sogenannte Himmlische und Irdische Liebe: Der Beistand der Venus im Hochzeitsbild der Laura Bagarotto, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 64. Bd., H. 3 (2001), pp. 331-363.
Brown, Beverley Louise, Picturing the Perfect Marriage: The Equilibrium of Sense and Sensibility in Titian's Sacred and Profane Love, in: Andrea Bayer und Sarah Cartwright [Hrssg.], Art and love in Renaissance Italy, New Haven 2008.
Cantelupe, Eugene B., Titian's Sacred and Profane Love Re-examined, in: The Art Bulletin, Vol. 46, No. 2 (June 1964), pp. 218-227.
Dierichs, Angelika, Erotik, in: Der neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, Hubert Cancik, Helmuth Schneider [Hrsg.], Band 4 / Epo - Gro, Stuttgart, Weimar 1998 Sp. 92 – 103.
Ficino, Marsilio, Über die Liebe oder Platons Gastmahl, Übersetzung Karl Paul Hasse, Leibzig 1914.
Goffen, Rona, Titian's Sacred and Profane Love: Individuality and Sexuality in a Renaissance Marriage Picture, in: Studies in the History of Art, Vol. 45, Symposium Papers XXV: Titian 500 (1993), pp. 120-144.
Goffen, Rona, Titian's Women. New Haven and London: Yale University Press, 1997.
Graf, Fritz, Eros, in: Der neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, Hubert Cancik, Helmuth Schneider [Hrsg.], Band 4 / Epo - Gro, Stuttgart, Weimar 1998 Sp. 89 – 91.
Hardt, Manfred, Geschichte der italienischen Literatur, Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1996.
Leitgeb, Maria-Christine, Ficino, Marsilio, in: Landfester, Manfred und Schneider, Helmuth [Hrsgg], Renaissance – Humanismus, Lexikon zur Antikenrezeption, Der neue Pauly – Supplemente Band 9, Stuttgart 2014, Sp. 371 - 378.
Lüdemann, Peter, Virtus und Voluptas, Beobachtungen zur Ikonographie weiblicher Aktfiguren in der venezianischen Malerei des frühen Cinquecento, in: Klaus Bergdolt [Hrg.] Studi – Schriftenreihe des deutschen Studienzentrums Venedig / Neue Folge Bd. 1, Berlin 2008.
Ost, Hans, Tizians „Himmlische und Irdische Liebe“, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch, Vol. 41 (1980), pp. 87-104.
Panofsky, Erwin, Exkurs I: Zur Deutung von Tizians „Himmlischer und Irdischer Liebe", in: Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst, Hamburg 1930, S. 173 – 180.
Panofsky, Erwin, Studien zur Ikonologie - humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, Köln 1980.
Poeschel, Sabine, Handbuch der Ikonographie, Sakrale und profane Themen der bildenden Kunst, Darmstadt 2014.
Rosenthal, Margaret F., Jones, Ann Rosalind [Hrsg], The Clothing of the Renaissance World – Caesare Vecellio's Habiti Antichi et Moderni, London 2008.
Steigerwald, Jörn; Rosen, Valeska von, Amor sacro e profano - Modelle und Modellierungen der Liebe in Literatur und Malerei der italienischen Renaissance, Wiesbaden 2012.
Steigerwald, Jörn; Amors Renaissance: Modellierungen himmlischer und irdischer Liebe in der Literatur des Cinquecento (culturae, Band 10), Wiesbaden 2014.